Wissenschaft hinter Paywalls

In der Welt der Wissenschaft gibt es ein seltsames Paradox: Forscher:innen schaffen Wissen, geben es kostenlos an Verlage, bewerten die Arbeiten ihrer Kolleg:innen ebenfalls kostenlos – und müssen dann teuer dafür bezahlen, um Zugang zu genau dieser Forschung zu erhalten. Dieses Geschäftsmodell erscheint absurd, ist aber seit Jahrzehnten die Realität im akademischen Publikationswesen.
Die Maxwell-Methode: Wie ein Geschäftsmodell die Wissenschaft veränderte
Im Zentrum dieser Entwicklung stand Robert Maxwell, der Vater von Ghislaine Maxwell. Er erwarb 1951 Pergamon Press und revolutionierte das akademische Verlagswesen mit einem Geschäftsmodell, das bis heute die Branche dominiert. Maxwell erkannte das Potenzial, nicht Einzelpersonen, sondern vor allem Universitäten als Kunden zu gewinnen. Seine Strategie war ebenso einfach wie effektiv: Zunächst rekrutierte er renommierte Wissenschaftler als Herausgeber spezialisierter Fachzeitschriften. Durch diese Verbindungen baute er Prestige für seine Publikationen auf. Schliesslich etablierte er ein Subskriptionsmodell, das Universitäten zwingt, für den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur zu zahlen. Dieses System schuf das heute allgegenwärtige "Publish or Perish"-Paradigma, bei dem Forscher unter enormem Druck stehen, in genau diesen Prestigejournalen zu publizieren, um Karriere machen zu können. Das "Veröffentliche oder gehe unter"-Prinzip hat tiefgreifende Auswirkungen auf die wissenschaftliche Arbeit: Nachwuchswissenschaftler:innen verbringen einen Grossteil ihrer Zeit damit, Publikationen zu produzieren, statt sich auf innovative Forschung zu konzentrieren (die unter Umständen nicht publiziert werden wird; Publication Bias als Stichwort). Die akademische Welt bewertet den Wert von Forscher:innen primär anhand der Quantität und des Renommees der Veröffentlichungen, nicht unbedingt anhand der tatsächlichen Bedeutung der Entdeckungen. Dies führt zu einem System, in dem Karrierefortschritt, Festanstellungen und Forschungsgelder massgeblich von Publikationslisten abhängen, was den wissenschaftlichen Diskurs verzerrt und risikoarme, inkrementelle Forschung gegenüber bahnbrechenden, tendziell riskanteren Ansätzen bevorzugt.
Die Probleme des aktuellen Systems
Die Konsequenzen dieses Modells sind weitreichend: Die Kosten für die Veröffentlichung in renommierten Zeitschriften sind enorm hoch. Der Betrag von über 12.000 Dollar für eine Publikation in "Nature" ist keine Übertreibung: Diese Gebühren setzen sich zusammen aus Einreichungsgebühren, Bearbeitungsgebühren, zusätzlichen Kosten für Farbabbildungen, erweiterte Datenanhänge und Open-Access-Gebühren. Möchten Forscher:innen, dass die Publikation für ALLE freiverfügbar ist, zahlen sie dafür extra! Für unabhängige Wissenschaftler:innen ohne institutionelle Anbindung sind diese Kosten oft unerschwinglich. Dies schafft ein System, in dem nur Forscher:innen mit finanzkräftiger Unterstützung ihre Arbeit in diesen einflussreichen Journalen veröffentlichen können. Kleine Labore, Forscher aus Entwicklungsländern oder unabhängige Wissenschaftler werden systematisch ausgegrenzt.
Das aktuelle System belohnt "sichere" Forschung, die innerhalb etablierter Paradigmen bleibt: Forschungsanträge, die auf vorläufigen Ergebnissen basieren, die bereits zu den dominierenden Theorien passen, haben bessere Chancen auf Finanzierung. Peer-Reviewer neigen dazu, Arbeiten zu bevorzugen, die ihre eigenen Forschungsgebiete unterstützen. Karrierefortschritt hängt von regelmässigen Publikationen ab, was risikoreiche, langfristige Forschung unattraktiv macht. Die "sichere" Strategie ist, kleinere, vorhersehbare Entdeckungen zu machen, nicht paradigmenverändernde Forschung zu betreiben. Dadurch entsteht ein konservativer Bias in der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Fortschritt potenziell verlangsamt. Historisch wurden viele bahnbrechende Theorien zunächst vom wissenschaftlichen Establishment abgelehnt – getreu dem Motto: "Was der Bauer nicht kennt..."
Der beschränkte Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen schafft eine massive Wissenskluft: Universitätsabonnements für wichtige Journale kosten oft mehrere Millionen Dollar jährlich. Kleinere Institutionen, besonders in ärmeren Ländern, können sich diese Gebühren nicht leisten. Einzelne Artikel kosten typischerweise zwischen 30-50 Dollar für 24-Stunden-Zugang. Selbst Forscher:innen, die zu einer Studie beigetragen haben, können oft nicht auf die endgültige Version zugreifen, wenn ihre Institution kein Abonnement hat.
Auch das Peer-Review-System hat mehrere strukturelle Schwachstellen: Reviewer bleiben anonym, was zu geringer Verantwortlichkeit führen kann. Konkurrierende Labore können Publikationen verzögern oder blockieren. Der "Confirmation Bias" bevorzugt Studien, die bestehende Theorien bestätigen. Die Begutachtung ist unbezahlt, wodurch oft Zeitmangel herrscht und oberflächliche Reviews entstehen. Echte methodologische Innovationen werden oft missverstanden oder abgelehnt. Für hochspezialisierte Felder gibt es nur wenige qualifizierte Reviewer, die häufig in Interessenkonflikten stehen.
Maxwell verkaufte Pergamon Press 1991 an Elsevier, das zusammen mit Wiley und Springer weiterhin den Markt dominiert. Die akademische Verlagsindustrie generiert heute geschätzte 25 Milliarden Dollar jährlich – vergleichbar mit der Musik- und Filmindustrie.
Zeit für ein neues Modell?
Die wissenschaftliche Gemeinschaft beginnt zu erkennen, dass ein neues Publikationsmodell notwendig ist, um die verzerrten Anreizstrukturen zu korrigieren und Wissenschaftler:innen zu ermöglichen, wirklich innovative Forschung zu betreiben. Mehrere vielversprechende Ansätze zeichnen sich ab:
Open-Access-Transformationen: Eine vollständige Umstellung auf Open-Access-Publikationen würde Wissensbarrieren abbauen. Modelle wie "Plan S", der von europäischen Forschungsförderern unterstützt wird, verlangen, dass öffentlich finanzierte Forschung frei zugänglich sein muss. Besonders vielversprechend sind "Diamond Open Access"-Journale, die weder von Lesern noch von Autoren Gebühren verlangen und stattdessen durch Stiftungen, Universitätskonsortien oder öffentliche Mittel finanziert werden.
Preprint-Server-Kultur: Plattformen wie arXiv, bioRxiv und medRxiv ermöglichen die direkte Veröffentlichung von Forschungsergebnissen vor der formalen Peer-Review. Dies beschleunigt den Wissensaustausch und demokratisiert den Zugang.
Transparente Peer-Review-Verfahren: Offene Begutachtungsverfahren, bei denen die Identitäten der Gutachter:innen bekannt sind und Gutachten veröffentlicht werden, könnten Verantwortlichkeit und Qualität erhöhen. Plattformen wie F1000Research und PeerJ nutzen diesen Ansatz bereits erfolgreich.
Community-basierte Bewertungssysteme: Post-Publikations-Peer-Review und offene Kommentarsysteme können traditionelle Bewertungen ergänzen. Plattformen wie "PubPeer" ermöglichen es der breiteren wissenschaftlichen Gemeinschaft, veröffentlichte Arbeiten zu diskutieren und zu evaluieren.
Neue Metriken für wissenschaftlichen Erfolg: Um das "Publish or Perish"-Paradigma zu überwinden, müssen Universitäten und Förderorganisationen alternative Bewertungskriterien entwickeln. Die San Francisco Declaration on Research Assessment (DORA) fordert bereits, den Journal Impact Factor nicht mehr zur Bewertung einzelner Wissenschaftler:innen zu verwenden und stattdessen die tatsächliche Qualität und Wirkung der Forschung zu betrachten.
Dezentralisierte Publikationsplattformen: Blockchain-basierte Lösungen könnten dezentrale, manipulationssichere Veröffentlichungs- und Bewertungssysteme schaffen, die keiner einzelnen Institution gehören und von der wissenschaftlichen Gemeinschaft selbst verwaltet werden.
Die Veränderung des wissenschaftlichen Publikationswesens könnte nicht nur die Forschung selbst revolutionieren, sondern auch translationalen Wissenschaftler:innen die Freiheit geben, ausserhalb etablierter Paradigmen zu denken (und zu publizieren) – mit potenziell weitreichenden Auswirkungen auf Bereiche wie die Medizin. Die Frage bleibt: Wie lange noch werden wir ein System akzeptieren, das im Wesentlichen darauf basiert, dass Wissenschaftler:innen ihre Arbeit kostenlos abgeben, um sie dann teuer zurückkaufen zu müssen?